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Nachgedacht

Pfarrer

Marc-Albrecht Harms

Zwei Sekunden brauchte der Arzt, um den einen Satz zu sagen. Sie saßen beide vor dem Schreibtisch, vor dem vor ihnen schon so viele andere gesessen hatten.

Er konnte seine Frau da nicht allein hingehen lassen. Er konnte nicht im Auto auf dem Parkplatz warten, nicht vor der Tür oder im Café des Kranken- hauses. Station 21 – die Zahl wird er nicht mehr vergessen, auch nicht den Chefarzt, der so liebevoll, wie er nur konnte, diesen Satz sagte: „Es sieht nicht so gut aus.“ Zwei Sekunden – und nichts war mehr wie vorher.

Oft fuhren sie nun zu dem See, an dem sie sich vor vielen Jahren stundenlang verliebt in die Augen geschaut hatten. Da saßen sie auf der Bank wie damals und guckten, wie die Sonne unterging. Wenn die Sonne untergeht, haben Verliebte die Nacht vor sich. Eine Ewigkeit voller Glück – möge niemals der Morgen kommen.

Bei ihnen war es anders. Die untergehende Sonne war wie eine Sanduhr. Das letzte Sandkorn sollte niemals fallen. Es fiel aber, immer wieder – das letzte Sandkorn. Sie fuhren nach Hau- se jedes Mal und dachten beide, ohne es auszusprechen: „Wie lange noch?“

In einer Nacht, er schlief tief und fest, weckte sie ihn und sagte: „Komm, lass uns zum See fahren.“ „Jetzt?“ fragte er. „Ja!“ sagte sie und ließ keinen Zweifel aufkommen. „Ich will sehen, wie die Sonne aufgeht.“ Sie fuhren los, mitten im Dunkeln, an die gegenüberliegende Seite des Sees. Da saßen sie auf einer anderen, bislang für sie noch unbekannten Bank und schauten und guckten sich dabei ziemlich tief in die Augen, und die Sonne ging auf.

Dann gingen sie frühstücken in einem Café – und waren so glücklich wie lange nicht.

Gerade der Wechsel der Perspektive schafft diesen beiden den nötigen Raum, ihr Leben anzunehmen. Vom Sonnenaufgang her, also vom aufer- standenen Christus her, finden sie ihr Leben.

Ihr Pfarrer Marc-Albrecht Harms